Das Zimmer, in dem ich aufwuchs hatte ein großes Wandregal. Neben den üblichen Bestandteilen eines Kinderzimmer sind dort so einige skurrile Erinnerungsstücke abgelegt worden: Fußballtrophäen (die Art, die sie einem allein für die Teilnahme überreichen – also keine Siegerpokale), verschiedene Henkelmänner, und ein Paar Stepptanz-Schuhe, die ich während einer Grundschulaufführung von „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ trug. Der prominenteste Platz war jedoch für ein altes Paar Rennwagen reserviert – eines in blau, das andere in rot.
Diese Autos haben für mich eine besondere Rolle in meiner Adoleszenz gespielt. Sie wurden montiert und hatten nur eine Aufgabe: zu repräsentieren. Zufriedengeben wollte ich mich damit dann doch nicht. Wenn meine Mutter in die Wäscherei ging, drehte ich die Schrauben heraus, die die Wagen auf ihren Sockeln fest hielt um ein Rennen zu veranstalten.
Mein bevorzugter Veranstaltungsort war der Flur der zur Küche führte. Er hatte solide Dielen, und war ein perfekter Ort für Blau und Rot um richtig auf Touren zu kommen. Auf dieser Strecke erlebte ich einige ziemlich mutige, ja waghalsige Kämpfe. Die beiden Autos taten alles um zu gewinnen; oft ineinander verheddert um sich dann loszureißen oder sie nahmen riskante Abkürzungen unter den Möbeln hindurch. Die Auseinandersetzungen wurden besonders brutal, wenn ich eine kleine Rampe aus Comic-Büchern gebaut hatte; dann verlagerte sich der Kampf zeitweilig in der Luft.
Am Ende aber zollte die Härte der Rennen ihren Tribut. In meiner Pubertät angelangt, wurden die Autos bis zur Unkenntlichkeit zerschrottet. Die vorderen Kotflügel wurden durch die Kollisionen mit den Fußleisten abgerissen, und es gab sogar Zahnabdrücke auf ihren Reifen, verursacht durch meinen Hund Calvin, der die Rennen all zu oft als Spielaufforderung sah. Zu diesem Zeitpunkt erschien es nur fair, sie endlich in ihren verdienten Ruhestand zu schicken. Ich ließ sie nur auf ihren Sockeln stehen und den Staub des Frieden über sie rieseln.
Die Erfahrung, die ich mit diesen Autos hatte bei mir mehr als den Spieltrieb geweckt. Es war der Beginn einer lebenslangen Liebe zu Modellbauten. Nach Blau und Rot kam das Piratenschiff; ein perfekte Ausgabe der Blackbeard; eine Miniatur-Rakete und ein paar Dinosaurier in angemessener Größe. Wenn es sich um ein Modell von etwas war, das einmal real existierte, war ich vollkommen fasziniert. Ich liebte und liebe diese Kunstfertigkeit, die in der Herstellung der Nachbauten steckt. Heute lasse ich Dronen fliegen und entwickle eigene Modelle.
Seither beschäftigt mich eine grundlegende Frage: Ist es möglich, wirklich überzeugend und massetauglich die Feinheiten der Natur reproduzieren? Eine schwierige Frage ohne befriedigende Antwort bisher. Genau wie die Frage, ob Rot oder Blau der Schnellste war. Vermutlich hat mich das dazu bewogen Bionik zu studieren und die Übertragung von Mechanismen und Techniken der Natur zu meinem Lebensinhalt zu machen. Derzeit belege ich Gastsemester in den USA.
– Jörg Francke lebt derzeit Kalifornien. Befragung via Zoom. Textbearbeitung: Oliver Simon
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