Der Mensch ist der Mund des Herrn

Paul Klee - Der Mensch ist der Mund des Herrn - 1918

Diesen Sudelbuch-Eintrag – ein Interview – fand ich bei der Suche nach dem Titel eines Kunstwerkes. Die Notizen schrieb ich bereits in den 1980er Jahren nieder. Dennoch haben die Gedanken nicht an Aktualität verloren. Sie betreffen sowohl die Kirche als auch die damalige politische Aktivität in der SPD; auch von letzterer hat sich mein Gesprächspartner inzwischen enttäuscht abgewendet.

Niederschrift eines Gesprächs mit Rudolf P. [Historiker] — aus der Erinnerung & vervollständigt. Unsere Gesprächsführung war im Nachhinein interessant:

Sie standen wohl sehr unter dem Einfluss Ihrer Mutter, die Sie katholisch erzog, oder? Wie kam es, dass Sie sich später, wie Ihr Vater, politisch links orientierten? Gibt es ein Schlüsselerlebnis?

Ja, es gibt eine Schlüsselepisode. Wie wohl fast immer, hatte bei mir die Mutter in der Erziehung den größeren Einfluss. Aus einer alten katholischen Bürgerfamilie stammend – in der Nazizeit als Geisel inhaftiert, hatte sie unter den meist kommunistischen mitgefangenen Frauen den Namen die „heilige Johanna“ – wollte sie, dass ich eine Konfessionsschule besuchte, während mein Vater mich in die konfessionsfreie schicken wollte. Meine Mutter weigerte sich. Als mein Vater mit dem Lehrer der konfessionell nicht gebundenen Schule mich morgens auf den Schulweg bringen Wollte, trafen sie mich, im Nachthemd mit der Waschschüssel als Wurfgeschoss im Bett stehend, assistiert von meiner Mutter, bereit zum ersten großen Kulturkampf meines Lebens.

Es war also nicht nur ein Schlüssel~, sondern auch ein Schüsselerlebnis. Wie ist es ausgegangen?

Meine Mutter und ich gewannen, und ich ging in die katholische Gymnasiastenbewegung „NeuDeutschland“, der ich eine gute Erinnerung bewahre.
Mein Elternhaus war eine typisch rheinische Arbeiterfamilie jener Zeit. Meine Mutter sehr konservativ-traditionell erzogen und zeit ihres Lebens politisch nicht interessiert, in der Hitlerzeit aber außerordentlich tapfer; mein Vater, sehr aktiver Sozialdemokrat und Gewerkschafter, wohl Mitglied der katholischen Kirche, aber so wie das Max Weber einmal von sich gesagt hat: „religiös unmusikalisch“.
Bei uns zu Hause wurde die „Rheinische Zeitung“ gelesen, die von Karl Marx gegründete älteste sozialdemokratische Zeitung, in der Weimarer Republik von Wilhelm Sollmann im Sinne einer reformerischen Sozialdemokratie redigiert.

Darf ich Sie in diesem Zusammenhang fragen, warum es zum Bruch mit der Kirche kam?

Dafür gibt es kein Datum, denn dem liegt nicht ein Ereignis zugrunde, sondern ein Prozess. Es war ein Prozess des Nachdenkens über dogmatische Glaubensinhalte, die ich nicht mehr zu glauben vermochte; des kritischen Beobachtens der Stellungsnahmen der Kirche in sozialen Auseinandersetzungen jener Zeit und des Bemühens so vieler gewichtiger Kräfte der Amtskirche, sich mit den Nazis in einem modus vivendi zu arrangieren. Sicher versucht die Kirche das kleinere Übel zu wählen, um kirchliches Leben weiterhin möglich zu machen. Mich haben diese politischen Fehlentscheidungen, die ja auch von vielen kirchentreuen Geistlichen und Laien genauso empfunden wurden, als jungen idealistischen und kompromisslosen Menschen sehr beeinflusst. Zudem haben mich die Erzählungen meiner Mutter geprägt, die von den Nationalsozialisten inhaftiert wurde, auf Grund ihres Engagements für die Kirche und der fehlenden Unterstützung durch die Würdenträger der Kirche.
Heute, wo ich sehr viel klarer zu unterscheiden vermag zwischen dem Doppelcharakter der Kirche als einer Institution, die einerseits ewige Heilswahrheiten zu verkünden beansprucht, andererseits in weltlichen Entscheidungen der Fehlbarkeit aller menschlichen Einrichtungen unterliegt, würde ich sagen, dass die Konsequenz meiner persönlichen Entwicklung mich aus meiner Kirche hinausgeführt hat.

Wie stehen Sie heute zu den Kirchen?

Man muss die Aufgabe der Kirche in der Gesellschaft unabhängig davon sehen, was sie einem für das eigene persönliche Leben bedeutet. Ich habe nie jemandem, der ratsuchend zu mir kam, den Ratschlag erteilt, sich von seiner Kirche zu trennen, auch wenn er sich wegen einer gesellschaftlichen oder politischen Entscheidung der Amtskirche mit ihr überworfen fühlte. Auch nicht wegen des parteiischsten Hirtenbriefs zu einer Wahl! Für einen solchen Schritt kann allein das Verhältnis des Einzelnen zu den Glaubensinhalten entscheidend sein. Und dies ist eine Gewissensentscheidung in der tiefsten Bedeutung dieses Begriffs.

Ich habe immer wieder deutlich zu machen versucht, dass keine weltliche Einrichtung dem gläubigen Menschen das zu ersetzen vermag, was ihm die Kirche sein kann. Keine Partei oder sonst irgendeine Institution kann dem nach letzten Begründungen seines Lebens suchenden Menschen ein Ersatz für die Kirche sein. Außer, er findet diese letzten Antworten in nichtkirchlichen weltanschaulichen oder philosophischen Begründungen. Eine Partei z.B. entscheidet aus vorletzten Werten, in denen sich die weltanschaulich offene und Weite, zu Tolerierung und Respektierung unterschiedlicher Weltanschauungen verpflichtete, politische Partei einig ist: Freiheit, Demokratie, Solidarität zum Beispiel. Aber darunter liegen, tiefer schürfend, letzte Fragen nach Sinn und Auftrag unseres Lebens, auf die eine Partei keine Antwort geben kann, Fragen, die sich jeder Mehrheitsentscheidung entziehen.

Wie sehen Sie das Verhältnis Kirche/Staat?

W e n n die Kirche für viele Menschen das Fundament ihres Haltes in den Herausforderungen und Problemen des Lebens ist, so ergibt sich daraus eine Partnerschaft zwischen Kirche und Staat, bei gegenseitiger Unabhängigkeit und Unterschiedlichkeit ihres Selbstverständnisses und ihrer Aufgaben um der Menschen Willen, für die beide verantwortlich sind. Wenn beide die Mündigkeit des Menschen respektieren, nicht Herrschaft über den Menschen beanspruchen, sondern Dienst am Menschen leisten, werden sie überwinden können, was sie aus der Vergangenheit gegeneinander misstrauisch gemacht hat. Ein Weg, der sicherlich noch über manches Geröll führen wird.

Zypern | Ayia Napa | Orthodoxe Kirche | Foto: Dimitris Vetsikas

Über das Gespräch nachsinnend frage ich mich, ob „die Kirche“ und ihr Einfluss auf mein Leben, nur noch am Erkennen des Glockengeläuts messbar ist. Und ist das mit der Religion anders?

Dazu einige ergänzende Fragen; inspiriert durch Max Frischs Fragebogen:

Was gefällt mir am Neuen Testament? Und was am Vorgänger?
Wem gehört Gott? Erlebe ich Gott als Eigentum jemandes?
Weiß ich, was ich brauche in diesem Kontext?
Wogegen bin ich nicht versichert? Und würde ich mich diesbezüglich vertrauensvoll an die Kirche wenden wollen?
Hoffe ich auf ein Jenseits? Jetzt? Nach meinem Ableben?
Würde Gott seine Stellvertreter auf Erden gut heißen, wenn er von ihnen wüsste? Oder habe ich da etwas falsch verstanden?
Welchen Stellenwert hat DIE Macht emotional für mich?  Und in Bedrängnis?


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